Abgehängter Osten, überheblicher Westen?

Die ersten Analysen des Ergebnisses der Bundestagswahl sind mittlerweile veröffentlicht und werden diskutiert. Eine Frage rückt immer mehr in den Mittelpunkt: Wieso unterscheiden sich die Ergebnisse in Ost- und Westdeutschland so eklatant?

Regionale Unterschiede bei Wahlen sind kein Phänomen der Neuzeit oder der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag. Es gibt sie überall auf der Welt. In den USA beispielsweise lebt der Präsidentschaftswahlkampf und gerade auch die Berichterstattung förmlich von diesen Unterschieden. Hier ist dann häufig von Stammstaaten und den sogenannten „Swingstates“ die Rede. In Deutschland gibt es so etwas auch, wenn auch nicht in derart ausgeprägter Form. Bayern ist konservativ und das auch nach den enormen Verlusten der CSU vom vergangenen Sonntag. Trotz grünem Ministerpräsident oder vielleicht fast schon deswegen ist auch Baden-Württemberg konservativ. Hessen war stets ein deutscher „Swingstate“, ist jedoch seit nunmehr rund 20 Jahren CDU geführt. Je höher es in den Norden geht, desto sozialdemokratischer wird es, das zeigen vor allem die Wahlkreisergebnisse, gleiches gilt für den tiefen Westen der Republik. Die neuen Bundesländer indes reagieren anders und wählen anders und genau darin liegt der Kern der Diskussion der vergangenen Tage.

Im Osten der Republik wird unter dem bundesweiten Schnitt gewählt. Kein Bundesland erreicht die 76,2 Prozent Wahlbeteiligung, die es bundesweit gab. Sachsen-Anhalt ist mit rund 68 Prozent hier gar deutliches Schlusslicht. Die Ergebnisse unterscheiden sich in den neuen Bundesländern ebenfalls stark von denen der alten Länder. Während die AfD in Westdeutschland nirgends den Wähleranteil (Zweitstimmen) erreicht, mit dem sie gesamt in den Bundestag einzog, übertrifft sie diesen in den neuen Ländern mit Ausnahme von Berlin überall deutlich. In Sachsen ist sie gar stärkste Partei, hier holte sie zudem drei Direktmandate. Die SPD ist in den neuen Bundesländern zum Teil nur noch vierstärkste Kraft und selbst die Linke, die nach wie vor ihr Stammwählerklientel im Osten der Republik hat, verliert hier deutlich. Natürlich muss auch die CDU herbe Verluste einstecken und muss zumindest für diese Wahl ihr Stammland Sachsen abtreten. Nimmt man das Ergebnis für Sachsen von AfD und Linken zusammen, so kommen diese beiden politischen Ränder auf 43,1 Prozent der Zweistimmen im Freistaat.

Das sind Zahlen, die zum Nachdenken anregen. Wenn die politischen Ränder gemeinsam fast oder im Fall von Sachsen sogar über 40 Prozent erreichen, dann muss das den anderen Parteien ein Warnsignal sein. In diesen rund 40 Prozent sammelt sich viel Protest, zumal Sachsen nur sehr knapp unter dem bundesweiten Wahlbeteiligungsschnitt liegt. Dass sich Protest vor allem in Stimmen für kleinere Parteien oder auch Parteien der politischen Extreme äußert, ist nicht neu. Dass es jedoch so deutlich ausfällt, ist anders. Womit wir wieder bei der Eingangsfrage wären: Wieso unterscheiden sich die Ergebnisse in Ost- und Westdeutschland so eklatant? Man wird das Gefühl nicht los, dass die Parteien der Bonner Republik – ich vermeide bewusst die Worte „Altparteien“ oder „etablierte Parteien – nicht mehr nah genug am Bürger dran sind und vor allem in den neuen Bundesländern diese Bürgernähe nahezu komplett verloren haben. In Ostdeutschland leben die wenigsten Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund, wenn man Berlin als Sonderfall einmal außen vor lässt. Hier sind deutlich weniger Flüchtlinge untergebracht als im Vergleich zu Westdeutschland und doch hat die Argumentation der AfD verfangen. Dies kann sich in Teilen auf einen gewissen Vorbehalt gegenüber Ausländern zurückführen lassen. Manch einer argumentiert hier dann auch mit der Sozialisation in der DDR, in der es ja nicht nur latenten Rassismus gab und beispielsweise Gastarbeiter aus sogenannten sozialistischen Brüderstaaten wie Mosambik oder Vietnam systematisch ausgegrenzt wurden. Aber ich denke, dass das nur ein Teilaspekt sein kann.

Nur Bremen weist eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit auf, als die neuen Bundesländer. Einzig Thüringen liegt unter sieben Prozent Arbeitslosigkeit und vergleicht man weiter, so erreicht im Westen nur Nordrhein-Westfalen und mit Abstrichen das Saarland ostdeutsche Werte bei der Arbeitslosigkeit. Es verwundert deshalb nicht, dass die neuen Bundesländer auch beim verfügbaren Einkommen pro Haushalt sehr deutlich hinter den alten Bundesländern zurückliegen. Das sind die harten Fakten, die hinter der Begrifflichkeit des „sich abgehängt fühlen“ stehen. Damit einher geht aber auch eine tiefenpsychologische Ebene, die man immer häufiger hört und liest. Viele Menschen in Ostdeutschland fühlen sich schlichtweg vergessen. Wähnte man sich nach dem 9. November 1989 und noch einmal nach dem 3. Oktober 1990 noch als Gewinner der Wiedervereinigung, da man Freiheit und Demokratie gewann und Abschottung sowie Überwachung hinter sich ließ, fühlen sich 27 Jahre nach der Einheit viele Ostdeutsche vergessen und nicht ernst genommen. Zwar werden die Zahlen geringer, wenn man jüngere Generationen befragt, aber hier zeigt sich ein anderes, sehr bedenkliches Phänomen, nämlich die eklatant hohe Arbeitslosenquote bei Menschen zwischen 15 und 19 Jahren. Diese ist nur in Bremen auf dem ostdeutschen Niveau, das ansonsten deutlich über dem der alten Bundesländer liegt.

Betrachtet man all diese Zahlen und Statistiken und fügt die quantitativ kaum messbare, aber doch qualitativ spürbare subjektive, psychologische Ebene hinzu, erscheinen die Aussagen einiger politischer Beobachter der letzten Tage wie Hohn. Sicherlich gab es hier Unterscheidungen in Sachlichkeit und Zuspitzung, aber beispielhaft zeige ich hier einmal den Tweet eines Spiegelredakteurs, der sich ansonsten gern gegen Pauschalisierung einsetzt:

Gesehen auf Twitter (@HasnainKazim)Zugegeben, dieser Tweet ist möglicherweise nicht ganz repräsentativ, aber er zeigt doch, wie verächtlich manch einer gerade nach Ostdeutschland schaut und genau das ist in meinen Augen der falsche Weg. Die rund 40 Prozent Stimmenanteil für die politischen Ränder bekommt man damit nicht einmal ansatzweise zurück, im Gegenteil man leistet den Parteien, die Protestwähler sammeln sogar noch Vorschub. Während man ansonsten gern einmal hört, dass pauschalisieren nicht hilft und man beispielsweise die friedlichen Mitglieder einer Religionsgemeinschaft gleichsam diffamiert, wenn man die fundamentalistischen und gewaltbereiten Glaubensbrüder mit ihnen gleichsetzt, scheinen diese Regeln für die Bürger in den neuen Bundesländern nicht zu gelten. Natürlich empfinde auch ich es als nicht richtig, die AfD zu wählen und gerade im Osten tritt sie als völkische, rassistische und nationalistische Partei auf und das nicht nur in Teilen. Aber wenn eine solche Partei es schafft, in Sachsen stärkste Kraft zu werden und auch in Thüringen über 20 Prozent zu erhalten sowie in den anderen neuen Bundesländern ebenfalls deutliche zweistellige Ergebnisse einfährt, kann die Antwort darauf nicht Abgrenzung und Diffamierung sein. Die Antwort muss lauten, dass wir uns anhören müssen, was die Leute zu sagen haben. Das kann weh tun. Dies erfuhr Martin Patzelt in seinem Wahlkampf als Direktkandidat der CDU in Brandenburg. Er musste sich beschimpfen lassen, er musste viele unangenehme Situationen ertragen, doch er stellte sich genau diesen und gewann schlussendlich das Direktmandat gegen unter anderem Alexander Gauland, der schlechter abschnitt als seine Partei bei den Zweistimmen, wohingegen Patzelt trotz Verlusten besser abschnitt, als die CDU bei den Zweitstimmen. Dies zeigt, dass man etwas erreichen kann, wenn man mit den Leuten redet, wenn man sich ihnen stellt und wenn man ihnen möglicherweise sogar auch noch Perspektiven aufzeigt. Sicherlich wird man nicht jeden der Wähler erreichen, einige sind möglicherweise tatsächlich so etwas wie Stammwähler der AfD, der Linken sowieso. Aber man erreicht diejenigen, die eigentlich immer eine der demokratischen Parteien gewählt haben, sich aber durch diese nicht mehr vertreten gefühlt haben. Für diese Menschen lohnt es sich, sich einzusetzen und sie zurückzugewinnen. Es bedarf natürlich nicht nur Worte, es müssen auch Taten folgen. Infrastrukturmaßnahmen müssen erfolgen, genauso wie ein Arbeitsmarktprogramm für vor allem ländliche Gegenden.

Ostdeutschland links oder in dem Fall rechts liegen zu lassen wäre nicht nur gefährlich, es wäre fahrlässig. Die Strukturzahlen zeigen, dass es zwar viel Arbeit bedeutet, diese enttäuschten Wähler zurückzugewinnen, aber unterlässt man derartige Anstrengungen, würde sich die Spaltung unseres Landes nicht nur manifestieren, sie könnte sogar unüberwindbar werden und das dürfen wir nicht zulassen.